Revolution und Konterrevolution
Es ist schon interessant, wenn ich mir die Definitionen von „Revolution“ und „Konterrevolution“ im Lexikon durchlese. Zunächst las ich sie im „Meyers neues Lexikon“, Leipzig 1963, dann zum Vergleich im „Universallexikon“, auch Leipzig 1989, beides also in der DDR erschienen.
Inhaltlich gehen die Definitionen erheblich auseinander. – Warum? Ich kann mir das nur so erklären, daß die Ausgabe von 1989 (ich erinnere mich, daß diese erst 1990 ausgeliefert wurde) entsprechend der Situation der Zerschlagung des sozialistischen Staates DDR inhaltlich geändert werden mußte. Vieles in dem „Universallexikon“ wurde umdefiniert. Also hatten sich Verantwortliche schnell zu Definitionsänderungen hinreißen lassen. – Wurde das, was 1963 definiert wurde, 1989 einfach für falsch betrachtet und „angepaßt“?
Wärend 1963 noch auf 2 ganzen zweispaltigen Seiten von Revolution als
„sprunghafte qualitative Veränderung in der Gesellschaft.„
bezeichnet wurde, und weiter:
„Die sozialen R. treten in der Geschichte der antagonistischern Klassengesellschaft, d.h. von ihrer Entstehung bis zu ihrer Ablösung durch die sozialistisch – kommunistische Gesellschaftsordnung, gesetzmäßig auf. Die tiefste Ursache der sozialen R. ist der Konflikt zwischen dem Charakter der neuen, zur ungehemmten Entfaltung drängenden Produktivkräfte und den alten, überlebten Produktionsverhältnissen, die sich aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte im Verlauf der Evolution der gegebenen Produktionsweise in Fesseln der Produktivkräfte verwandelt haben. Dieser Konflikt ist nur durch eine grundlegende Umwälzung der herrschenden Produktionsverhältnisse zu lösen. Dieser Umwälzung widersetzen sich jedoch die herrenden Klassen, die ihr parasitäres Dasein nur so lange führen und ihre privilegierte Stellung nur so lange erhalten können, wie die in der gegebenen Klassengesellschaft herrschende Form des Eigentums unangetastet bleibt. Keine Ausbeuterklasse verzichtet freiwillig auf ihr Eigentum. Die überlebten Klassen bedienen sich zur Erhaltung ihrer Machtpositionen ihres staatlichen Zwangsapparates und ihres gesamten politischen und ideologischen Überbaus. Die Ablösung der alten gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert daher eine R., die alle Hindernisse auf dem Wege der Entwicklung neuer ökonomischer Verhältnisse, in erster Linie die politische Herrschaft der überlebten Klassen, beseitigt. Die R. vollzieht sich im geschlossenen Kampf der unterdrückten Klassen gegen die Reaktion. Die Grundfrage der Revolution ist die Frage der politischen Macht, die Frage des Übergangs dieser Macht in die Hände der Klasse, die die neuen Produktionsverhältnisse verkörpert. Die neue politische Macht ist zugleich auch die Kraft, die die in den ökonomischen und sozialen Verhältnissen der Gesellschaft herangereiften Veränderungen vollzieht. R. können nicht << auf Bestellung>> gemacht werden; außer der einen grundlegenden Ursache der sozialen R., dem Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, ist für die R. noch das Eintreten einer revolutionären Situation nötig. <<Das Grundgesetz der R., das durch alle R. des 20. Jh. bestätigt worden ist, besteht im folgenden: Zur Revolution genügt es nicht, daß sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewußt werden und eine Änderung fordern; zur R. ist es notwendig, daß die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die ‚Unterschichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die R. siegen. Mit anderen Worten kann man diese Wahrheit so ausdrücken: Die R. ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete und Ausbeuter erfassende) Krise.>> (Lenin)…„
sieht in der Ausgabe von 1989 auf nur noch eine 3/4 Spalte von 3 Spalten einer Seite die Definition für „Revolution“ so aus:
„grundlegende Umgestaltung der gesamten Gesellschaftsstruktur; beinhaltet bes. Veränderungen in der polit. Organisation der Gesellschaft und meist eine Neuordnung der Zugriffsmöglichkeiten auf die Hauptproduktionsmittel und der Verfahren der Verteilung des Sozialproduktes. Die sozialen Träger einer R. bestimmen deren Charakter. Die Oktober-R. in Rußland (1917) wird als sozialist. R. bezeichnet, da dort die Ideale der Marxschen Sozialismustheorie verwirklicht werden sollten. Bürgerl. und sozialist. R. sind R. von unten, sie werden von unterdrückten und benachteiligten Schichten bestimmt, haben aber nicht immer eindeutige homogene Zielsetzungen.„
Schon darin offenbart sich die Abkehr vom wissenschaftlichen Kommunismus, den Lehren von Marx/Engels und Lenin. Jedwede gesellschaftliche Veränderung kann somit als Revolution bezeichnet werden, egal, ob eine qalitativ höherentwickelte Gesellschaftsordnung angestrebt wird oder das Gegenteil, wie 1989. Eine Klassenfrage wird nicht gestellt; es sind „Schichten“.
Dann wird tatsächlich bereits Bezug genommen auf die 1989 neu entstandene Situation:
„Die revolutionären Massenbewegungen Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre in den bis dahin sozialistischen Ländern Europas sind um eine friedl. Umwälzung gesellschaftl. Strukturen (des Stalinismus) in den jeweiligen Ländern bemüht, ohne daß ein verbindliches, von allen beteiligten Kräften anerkanntes polit. Konzept der Handlungsorientierung vorhanden wäre, abgesehen von den Bemühungen um Pluralismus im Rahmen einer Einführung parlamentar. Demokratie. Diese polit. Bewegung kann als Reaktion auf das <<Neue Denken>> vestanden werden, das M. Gorbatschow seit Mitte der 80er Jahre in die Weltpolitik eingebracht hat. R., die nicht von einer bestimmten sozialen Schicht getragen werden, sind R. von oben, deren Führung von nur einer Person bzw. einer kleinen Gruppe übernommen wird, die grundlegende Veränderungen der Gesellschaftsstruktur <<verordnet>>…. Polit. Bewegungen, die sich gegen R. stellen, bzw. deren Ergebnisse rückgängig machen wollen, werden als Konter-R. bezeichnet.„
Der letzte Satz führt die vorangegangenen Aussagen ad absurdum. – Also war es 1989 doch eine Konterrevolution und keine „friedliche“ Revolution!
Die Aussage, daß eine Revolution von nur einer Person bzw. einer kleinen Gruppe durchgeführt werden kann ist grundlegend falsch! – Der dafür richtige Begriff ist der „Putsch“. Hier wirderspricht sich das Lexikon selbst – denn weiter vorn im selben Band steht unter „Putsch“:
„versuchter oder durchgeführter gewaltsamer Sturz einer Regierung unter Bruch der Verfassung durch die Verschwörung einer Minderheit; der P. besitzt keine Massenbasis.„
Dennoch wird damit suggeriert, ein Putsch laufe immer gewaltsam ab, was nicht stimmt!
1963 wird „Putsch“ m.E. richtig definiert:
„versuchter oder tatsächlicher Sturz einer bestehenden Regierung oder Regierungsform durch eine Minderheit. P. verbleiben in der Regel auf dem Boden der bestehenden Ausbeutergesellschaft und stellen meist lediglich die Ablösung einer kleinen Ausbeutergruppe durch eine andere, oft noch reaktionärerer dar (z.B. Milität-P.). P. haben keine Massenbasis, sie sollen oft revolutionären Volksbewegungen zuvorkommen. Konterrevolutionäre P.versuche sind auf die Liquidierung einer fortschrittlichen sozialen Ordnung gerichtet. P. können nur dann eine relativ fortschrittliche Rolle spielen, wenn sie zum Anlaß oder Ausgangspunkt progressier sozialer Veränderungen werden und demokratische Massenbewegungen auslösen oder fördern.„
Schaue ich mir die Definitionen für „Konterrevolution“ an:
1963:
„Kampf reaktionärer Klassen oder Schichten gegen eine heranreifende oder siegreiche Revolution mit der Absicht, die historisch überlebte Macht wiederherzustellen oder zu verteidigen. Erst die K. zwingt die fortschrittlichen revolutionären Kräfte zum bewaffneten Kampf. Um die alten gesellschaftlichen Zustände (Produktions-, Besitzverhältnisse) zu erhalten, schrecken die konterrevolutionären Kräfte vor keinem Mittel zurück und stellen sich sogleich mit Terror und Mord auch außerhalb der ehemals von ihren eigenen Klassen geschaffenen Gesetze. Ebenso setzen sie diese Gesetze (z.B. bürgerliche Verfassung mit ihren <<garantierten Freiheiten>> wie der Rede, der Presse usw., der Unverletzlichkeit der Person) und Einrichtungen (demokratischer Staatsaufbau) außer Kraft. Die K. erthält oft durch ausländische reaktionäre Kräfte materielle Unterstützung.Das sozialistische Weltsystem, das gegen jeden <<Revolutionsexport>> ist, bekämpft auch strikt jeden Versuch des <<Exports>> der K.„
1989:
„erbitterter Klassenkampf historisch überlebter, reaktionärer Klassen gegen revolutionäre Erhebungen progressiver Klassen und revolutionäre Umgestaltungen der Gesellschaft. Die K. ist durch Grausamkeit, Terror und Mord gekennzeichnet; sie zwingt die fortschrittl. revolutionären Kräfte, die Errungenschaften der Revolution und deren weitere Entwicklung unter Gewaltanwendung, die bis zum bewaffneten Kampf gehen kann, zu schützen. Die sozialist. Staaten verteidigen die revolutionären Errungenschaften der Völker und wenden sich entschieden gegen alle Versuche des Imperialismus sich in innere Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen und konterrevolutionäre Kräfte zu mobilisieren.„
Die unterschiedlichen Definitionen von „Revolution“, „Konterrevolution“ und „Putsch“ sind für mich Belege dafür, daß der konterrevolutionäre Prozeß der Vereinnahmung der DDR durch die BRD mittels willfähriger hochrangiger (bis in Regierungskreise) Kräfte in der DDR langfristig, und nicht erst durch die Montagsdemos, vorbereitet wurde. Nicht anders konnten diese gravierenden Unterschiede in den Lexika entstanden sein. Die Definition von „Revolution“ 1989 läßt die Bezeichnung zu, daß die Montagsdemos 1989 eine „friedliche“ Revolution war, obwohl sie dem Charakter nach eine Konterrevolution war. Sie suggeriert, daß Konterrevolutionen mit „Grausamkeiten, Terror und Mord“ einhergehen, die es ja 1989 nicht gab. Das Lexikon von 1989 wurde auf die damals noch bevorstehenden (!) Veränderungen „zugeschnitten“, um danach sagen zu können: „Es war eine friedliche Revolution“.
Mittwoch, 1. Juli 2015 14:50
[…] Dazu mein nächster Artikel „Revolution“ und „Konterrevolution„ […]
Freitag, 3. Juli 2015 16:29
[…] Siehe dazu auch: Revolution und Konterrevolution […]