Klassentreffen…

…und eine tränenreiche Heimfahrt. Abiturklasse Abschluß 1972. Ich habe es gewußt – bzw. geahnt, aber ich hatte doch einen Funken Hoffnung, deshalb fahre ich die 515 km nach Halle und dieselbe Strecke zurück. Auf dem Hinweg von Anfang an Stau und schleppendes Vorankommen. Wer plant ein Klassentreffen am Ferienende? Zu allem Übel fühle ich mich bereits über eine Woche krank, Husten, Kopfschmerzen, etwas Schnupfen, Fieber… eigentlich hätte ich mich ins Bett legen sollen anstatt eine solche Tour auf mich zu nehmen. Annekathrin sagte mir: „Dein Körper wehrt sich gegen diese Fahrt; Du solltest auf deinen Körper hören.“. Ich hörte nicht auf ihn…

Ausgewählt war am Samstag ein gutes Restaurant fast im Zentrum von Halle. Ab 18:00 Uhr war für uns reserviert. Kaum lohnend für so eine kurze Zeit die dreifachre Wegzeit inkauf zu nehmen.

Ein recht kleines Grüppchen sitzt an einer langen Tafel, als ich komme. Ein paar ehemalige Klassenkameraden hatten leider abgesagt. Natürlich setze ich mich zu I. und T.. Mit I. teilte ich einst die Schulbank, und wir verstehen und bis heute gut. Weiß der Kuckuck, wie es einige geschafft hatten, aber nach der Wende begann für sie die Karriere, saßen zu DDR-Zeiten in zweiter und dritter Position. Für mich ging nach der Wende die Karriere zuende, denn ich biederte mich nicht an für „Staatsdienste“. Als mir 1992 eine Stelle im Finanzministerium Magdeburg angeboten wurde, lehnte ich mit den Worten: „Ich – Diener dieses Staates? – Niemals!“ ab.

S., die diesen Satz irgendwann einmal mir gegenüber formulierte, tauschte ihre Gesinnung gegen einen Leitungsposten bei einer Versicherung ein. Sie hatte nach dem Abi in Jena Philosophie studiert, dann ein Studium an der Parteihochschule und anschließend an der Parteihochschule promoviert. Als sie 1990/91 nicht mehr an der Uni lehren durfte, wie so viele unserer DDR-Dozenten, schwang sie die rote Fahne noch sehr hoch, wir saßen oft zusammen und tauschten unsere Gedanken zum Thema Einverleibung der DDR und daraus resultierende Folgen. Damals waren wir uns immer näher gekommen. Als man ihr 1992 bei der Versicherung einen leitenden Posten anbot, hängte sie mit Postenübernahme ihre einstige Einstellung an den Nagel. Von Stund an schwang sie Reden, wie arbeitsscheu doch die Angestellten seien, kein Gefühl für Gewinn und für gute Geschäfte hätten sie und sie müsse sich um vieles selbst kümmern, damit die großen Fische ihr – natürlich der Versicherung! – nicht durch die Lappen gingen. Wie schnell sie sich doch mit diesem System identifizierte. Ein anderes Gesprächsthema gab es kaum, wenn wir uns sahen. Oh doch: niemals läßt S. es unerwähnt, daß sie sich in der gehobeneren Gesellschaft sehen lassen „müsse“ – sie sei ja so beschäftigt außerhalb der Arbeitszeit, durch Empfänge und sonstige Veranstaltungen. Sie müsse ja etwas für ihr Ansehen tun. Man kennt sie in Halle und sie müsse ihren Verpflichtungen nachkommen, das sei wichtig für’s Geschäft. Bereits vor ein paar Jahren brach ich schweren Herzens den Kontakt zu S. ab. Es tat mir weh, diese Freundschaft aufzugeben. Noch mehr tat es aber weh, diese Metamorphose mit anzusehen. Ich schickte ihr eine letzte e-Mail, wo ich ihr meine Gründe mitteilte, die sie nie recht verstand. Warum eigentlich? Sie muß sich ja über andere Dinge mehr den Kopf zerbrechen – über die Motivation der ihr Untergebenen, daß sie genug Gewinn einbringen, der sich letztlich in ihrem Portemonnaie niederschlüge, über die richtige Garderobe zum nächsten Anlaß, in welchem Restaurant sie sich wieder sehen lassen müsse und welches Event sie auf keinen Fall auslassen dürfe. Ähnliche Gespräche führte S. auch an diesem Wochenende.

E., der nach der Wende bei der Treuhand den Untergang der ehemaligen DDR Betriebe mitorganisierte und dort mit seinen Gutachten ehemalige DDR – Betriebe, u.a. auch Robotron, abzuwickeln half, hatte einst sozialistische Planwirtschaft studiert. Beste Voraussetzungen, den Untergang selbst gewinnbringender Betriebe wie Robotron zu planen. – Gelernt ist eben gelernt. Wenn ich weiß, wie man die Volkswirtschaft plant, weiß ich auch, wie man sie verplant – verscherbelt. Und weil er seine Gutachten ohne jegliche Skrupel im Sinne seiner neuen Herren ausführte, darf er heute direkt für einen Wirtschaftsminister zuarbeiten. Das monatlich auf dem Konto eingehende Geld stimmt bestens – pfeif auf eine Gesinnung, von der man nicht mehr leben kann. Sie war früher vonnutzen, heute sehr, sehr störend. Am besten man redet gar nicht darüber und wenn doch, dann tut man es lachend als jugendliche Dummheit ab. Oder, was auch gut ist: für die Karriere mußte man ja so tun, als stünde man zur DDR.

T. ist er selbst geblieben – zwar hat auch er einen Posten abbekommen, hat aber nicht den kritsichen Blick auf gesellschaftliche Prozesse verloren und engagiert sich, wo es machbar ist, wie in manchen Bürgeinitiativen. T. hatte Landwirtschaft studiert und verwaltet jetzt die Computer der Behörde. Fachkräfte wie ich, die die meiste Zeit des Lebens mit Computern gearbeitet und andere gelehrt haben, sich stetig qualifizierten, Zertifikate erwarben, sind arbeitslos, damit Quereinsteiger deren Arbeit übernehmen… Eine verrückte Welt.

I., schon zu DDR – Zeiten ein erfolgreicher Physiker, ist seit der Wende sehr erfolgreich selbständig. Er prahlt nicht und ist geblieben, der er schon immer war. Naja, ein klein wenig muß man bei der Konkurrenz wenigstens durchblicken lassen, wie gut es einem geht. Das sei gestattet….

R. ist sehr ruhig geworden, seit Magdeburgs Presse nicht mehr über ihre Garderobe, speziell ihre Hüte, zum letzten Pferderennen berichtet. Der Konsum, in dem sie als Frau Vorstandsmitglied war, ist vor ein paar Jahren auch abgewickelt worden. Bis zuletzt hat sie für ihre Angestellten gekämpft; sie wollte für jeden einen Arbeitsplatz finden, was nicht möglich war und hat, wie sie mir erzählte, oft um die Mitarbeiter geweint. Mit dem Konsum war auch R. abgewickelt. Als wir uns das letzte Mal sprachen, sagte sie mir, sie genieße die Zeit ohne den Streß und ist nicht unglücklich, ohne Arbeit zu sein. Ich habe es ihr nicht ganz gelglaubt, aber auch wieder verstanden. Ob sie jetzt wieder arbeitet, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht gefragt. Wie gesagt, sie ist sehr ruhig geworden oder hatte nicht einen der guten Tage. Auf mich wirkte sie irgendwie unglücklich.
Wenn ich R. ansehe, denke ich spontan an einen ihrer Geburtstage vor ein paar Jahren, zu dem ich auch eingeladen war. Wir feierten rein, blieben also die halbe Nacht munter bis 1:00 Uhr. Wir überreichten unsere Geschenke, einzelne davon waren ihr keines Blickes würdig – dann sagte sie zu K.: „Und, schenkst du mir nichts?“. Ich hatte R. immer als ruhige, bescheidene und liebenswerte Mitschülerin, dann als Frau gekannt; diese Art an ihr kannte ich bis dahin noch nicht. K. brachte das Geschenk – ein sauteures Kostüm aus irgendeiner namhaften Boutique, das ihrem kritischen Blick bestehen mußte. Keine Freude brachte ein Lächeln auf ihr Gesicht, keine Geste, kein „Danke“… Diese Momente empfand ich als sehr unangenehm – eine Frau, die alles hat und der man kaum noch eine Freude machen kann…
K., ihr Mann, ist auch angekommen im vereinigten Deutschland. Er war, wie R., noch nie ein politischer Mensch. Zumindest nach außen. Man findet sich überall zurecht, muß nur die Windrichtung im Auge behalten. Wichtig ist, daß man immer ein Stück vom Schinken abbekommt. Seine Arbeit kann er immer tun, was er denkt, gibt er niemals preis. – Das hat schon zu DDR-Zeiten geklappt.

Das Gespräch läuft an: welche Tanzveranstaltungen in den Klassen 10 bis 12 besucht wurden, welche Erlebnisse man hatte. Wohin man in welchen Ferien mit wem verreist war. Jemand schaut mich an: „Weißt Du noch, Petra?!“ – „Ich war wohl nicht in dieser Klasse.“ sage ich traurig. Keiner wußte um meine Kindheit. Ich erkläre, daß ich zu Hause nur eingesperrt wurde, niergendwohin durfte und für alles Mögliche geprügelt wurde. Vom Betatscht werden und beinahe täglichen Erniedrigungen spreche ich nicht, auch nicht, daß dieser Mann meiner Schwester und mir ständig vorwarf, daß wir nicht seine Kinder waren. Ich hatte Angst, nach Hause und war glücklich frühmorgens zur Schule zu gehen. Am Anfang saß ich oft im Uterricht und wünschte, mein leiblicher Vater käme und nähme mich mit. Aber der durfte uns nicht besuchen, ich habe ihn, als ich 4 Jahre war, das letzte Mal gesehen. Weil ich schon mit 4 Jahren lesen und schreiben konnte, schrieb ich ihm Briefe und Postkarten und wunderte mich, daß Antworten ausblieben. Wie sollte ich ahnen, daß meine Post gar nich auf Reisen ging. Meine Mutter versteckte und vernichtete sie, daß sie ihr neuer Mann niemals fände. Ich hatte in diesem Alter zu meiner Schwester gesagt: „Unser anderer Papa war viel lieber.“, was sie sofort weitererzählte. Dafür bekam ich Schläge. Ich sage in die Runde: „Keinem von Euch war es je aufgefallen, daß ich nicht dabei war.“ – „Warum hast Du nie darüber gesprochen?“ – „Weil ich Angst hatte und mich schämte.“ Ich ringe mit den Tränen und erwähne noch, daß meine Mutter heute noch, wo mein Stiefvater schon ein paar Jahre tot ist, nichts davon wissen will und dieses Thema abwehrt oder es mit „Das stimmt doch gar nicht!“ oder „Er wollte doch immer nur Euer Bestes.“ nicht wahrhaben will. Da bin ich 53 Jahre und die Kindheit hängt mir so stark an, daß es immernoch so sehr schmerzt, mich Alpträume verfolgen, ich auf bestimmte Situationen für andere völlig unverständlich reagiere und ich darüber noch heute in Tränen ausbreche.

In unserer Ecke, wo ich sitze, erzählt man sich von beliebten Urlaubszielen. Ich erwähne, daß ich keine Lust verspüre, in andere Länder zu reisen, mir dort Luxus bieten zu lassen und die Armut , das Elend der Einheimischen zu sehen, daß ich dann Gewissenskonflikte bekomme, wie 1992 in Tunesien. Daß es uns in Europa vergleichsweise besser geht, ist doch nur auf Kosten dieser anderen Länder. – Nein, so sei das wahrlich nicht. Da sind sich E. und I. einig. I. erklärt es mir: „Die Menschen sind in ihrer Armut doch viel glücklicher als wir mit unsererm Wohlstand.“ Na da muß ich mal in aller Ruhe drüber nachdenken…

Über die anderen kann ich nur wenig schreiben, weil ich, bedingt durch meine starke Erkältung, auf meinem Platz sitzen blieb und die Gespräche am anderen Ende des Tisches nicht mitbekam. Ich ließ es mir nicht nehmen, die in meiner Nähe Sitzenden zu fragen: „Ihr alle seid also angekommen in dieser Gesellschaft?“. Wie kommt es – denn wir waren doch früher allesamt auf einer Linie, politisch aktiv, hatten eine Haltung, eine Überzeugung – nichts davon mehr da? Zunächst Schweigen, unsicheres Lächeln. Dann der Spruch, den ich nicht mehr hören kann: „Wir waren doch wirklich eigesperrt in der DDR.“ sagt E.. „Es hat nicht funktioniert, man muß ein besseres Leben über Reformen und Wahlen anstreben. Die „Diktatur des Proletariates“ hat sich als falsch herausgestellt.“ Ist das wirklich E., der das von sich gibt? Ich sage, sie dürften nicht von sich ausgehen… was nützt die Freiheit, wenn sich immer mehr Menschen keine Reisen leisten können, weil sie mehr darüber nachdenken müssen, wie sie den nächsten Tag finanzieren können. Jetzt darf man zwar Reisen, kann es sich aber nicht leisten. – Ihr dürft doch nicht nur Euch selbst sehen, die Ihr Euch alles leisten könnt. Denkt Ihr nicht auch mal an die Menschen neben Euch, die manchmal nicht wissen, wie sie satt werden?“ – „Höre doch mit diesem Spruch auf!“ sagt E.. Das ist kein Spruch, das ist Realität! – Ich lasse nicht nach: Die „Reformen“, die den Lebenstandart immer mehr abbauen, sind doch nur möglich, weil das sozialistische Lager zusammengebrochen ist. Jetzt kann man die Hosen runter~ und ungehemmt den Kapitalismus „blühen“ lassen. – Wenn ich etwas ändern wolle, solle ich es doch tun, solle mir eine Plattform dafür suchen. Auch den Lafontain lege mir E. nahe, das wäre doch vielleicht der Mann! – Nein, es ist doch traurig, daß ein Lafontain links von der PDS steht, wende ich ein. Und da ich die Zeit sehr wohl einschätzen könne, daß die Menschen überhaupt nicht bereit sind, etwas zu tun. Sie plappern meist gedankenlos nach, was ihnen die Medien vorgeben, weil sie es nicht besser wissen. Ich könnte doch aber erwarten, daß meine Klassenameraden, die über die gleiche Bildung wie ich verfügen, die Gesellschaft schon kritisch zu betrachten in der Lage sind. Und schon bezeichnet mich E. als „Betonkopf“. Als ich dann noch sage, daß die Wende von langer Hand vorbereitet war, meint er – das sei ja Blödsinn! – Jetzt führt er gar Stalin an, der vielleicht, man könne es ja nicht wissen, die Wiedervereinigung schon 1945 für 1990 vereinbart habe? Das waren keine Geheimdienste, die Gelder in Millionen- oder Milliardenhöhe fließen ließen. Nein, es ist keine Dummheit von E., es ist Frechheit – er steht tatsächlich mit beiden Beinen in dem Morast dieser Gesellschaft, der für ihn offensichtlich nicht stinkt, sondern einem Wellnessbad gleicht. Zum Schluß setzt E. noch einen drauf: „Es ist wirklich schlimm, was derzeit in Israel und im Irak los ist.“ ‚Ein Hoffnungsschimmer‘ denke ich erfreut, greife das Thema auf – aber Nein! – Schlimm sind nicht die Amerikaner oder die Israeli, schlimm sind die Selbstmordattentäter, die Spaltung und Unruhen zwischen den Glaubensgruppen. Schade…, nein beschämend für einen doch gut gebildeten Menschen. Die anderen, die drum herum sitzen, schweigen. Zweimal vertritt wenigstens T. meine Meinung, R., der Lehrer, wiegt, wie man ihn kennt, lächend und nachdenklich seinen Kopf. Als ich dann noch die „Junge Welt“ erwähnte die lesenswert ist, habe ich vollends „verloren“ (?). Dann setzen sich die meisten etwas weiter vor zu den anderen. Gespräche wie meine machen die Stühle unbequem. Was geht uns die Armut oder Chancenlosigkeit der anderen an? Reden wir doch über die angenhemen Dinge des Lebens – wo waren wir im letzten Jahr im Urlaub? – In Bali. Ja, die Maledieven sind auch wunderschön und für Neuseeland müssen wir das nächste Mal mehr Zeit einplanen…

X. setzt sich zu mir und bringt das Thema auf meine geliebten Hunde. Naja, nun, weit weg von Politik, kann man ja wieder mit Petra reden. – Wie groß sind die Hunde? Was fressen die? Nein, soche Hunde kennen wir nicht. Man ist erleichtert, daß das Unangenheme überstanden ist. Schade, daß Du keinen mitgebracht hast. Gut, das nächste Mal vielleicht. Wenn ich noch einmal kommen sollte.

Es ist inzwischen 0:00 Uhr, wir brechen auf. T. nimmt mich und I. mit dem Auto mit, so brauche ich kein Taxi zu bestellen. S. müsse am Sonntag unbedingt auf dem Markt mit dem zum Salzfest aufgebauten Riesenrad fahren. Ob die Mitteldeutsche Zeitung wohl darüber berichten wird?

Um es klarzustellen: ich gönne jedem eine gute Arbeit. Was ich jedoch nicht verstehe, daß man 40 Jahre seines Lebens eine Weltanschauung vertritt und diese urplötzlich ablegt wie ein zerrissenes Kleidungsstück. Für ein solches Verhalten empfinde ich nur Verachtung. Auch ich hatte nach der Wende Arbeit für die ich mich engagierte. Ich blieb immer ich, habe mich nicht „gewandelt“, weil meine Weltanschauung ehrlich ist. Ich habe keinen Grund diese zu verbergen. Auch wenn ich persönlich keine Not zu leiden habe, weil mein Mann gut verdient, sehe ich doch sehr genau, was auf dieser Welt und in Deutschland vor sich geht: sozialer Kahlschlag, Kriege, Arbeit, von deren Einkommen immer mehr Menschen nicht mehr leben können…

(Alle Namen habe ich durch beliebige Buchstaben ersetzt.)

Datum: Montag, 24. September 2007 11:55
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